Zur Ausgabe der Sämtlichen
Werke
Problemlage
| Was bietet die Ausgabe?
Problemlage
Leben, Werk und Wirkungsgeschichte Büchners fallen - mit fatalen
Folgen für die Textüberlieferung - aus dem Rahmen klassischer
Dichter-Karrieren. Als der 1813 geborene Darmstädter Arztsohn,
Sozialrevolutionär und Naturwissenschaftler am 19.2.1837 im
Schweizer Exil anTyphus starb, lag ein literarisches Œuvre, das
den Ruhm des Dreiundzwanzigjährigen hätte begründen
können, der Öffentlichkeit nicht vor. Außer den
Übersetzungen der beiden Dramen von Victor Hugo war von Büchner
nur das Drama Danton’s Tod 1835 erschienen; allerdings in
so rigoros ‘gereinigter’ Fassung, daß es bloß als eine
»Ruine der Verwüstung« (Karl Gutzkow) die Zensur passierte.
Welche geheime Rolle Büchner bei den »revolutionären
Umtrieben« nach der Julirevolution von 1830 im Großherzogtum
Hessen-Darmstadt und den süddeutschen Nachbarstaaten spielte,
davon kam wenig ans Licht. Welchen ungehobenen literarischen Schatz
die kärgliche Hinterlassenschaft des Flüchtlings barg,
war kaum zu ermessen. Noch lange meinte man, in dem Frühverstorbenen
eher einen vielversprechenden Naturwissenschaftler als einen Dichter
von Bedeutung für die Zukunft verloren zu haben.
Die zur Eile drängenden Bedingungen der Produktion und die
zwingend gebotene Vorsicht des gesuchten ‘Landesverräters’,
belastende Papiere zu verbergen, waren schon dem Zustand der Niederschriften
und ihrer Aufbewahrung nicht zuträglich gewesen. Der Geruch
von ‘Unsittlichkeit’ und politischer Gefährlichkeit, der den
nachgelassenen Papieren von Danton her und durch die Fahndung
nach dem Verfasser des Hessischen Landboten vorausging, ließ
den Hinterbliebenen eher einen distanzierten Umgang damit geraten
sein als entschiedene Bemühungen um die Erschließung.
Nicht zuletzt die Befangenheit der Zeitgenossen in den überkommenen
ästhetischen Konventionen, die den Zugang zu den ersten Artikulationen
einer modernen Literatur versperrten, war die Ursache dafür,
daß die vernachlässigten Handschriften beinahe vollends
dem Vermodern auf einem Dachboden überlassen blieben. Die Herausgabe
eines Bändchens von Nachgelassenen Schriften 1850 durch
Ludwig Büchner, den bald schon durch seine eigenen Schriften
bei weitem berühmteren Bruder, war allein dem Gebot familiärer
Pietät geschuldet.
Erst die Vorstöße der Naturalisten und der nachfolgenden
Avantgarden, die mit den klassischen Kunstnormen brachen und sich
auf Büchner als einen Vorgänger beriefen, bewirkten den
Durchbruch zu einer adäquateren Rezeption des dichterischen
Werks. Seitdem entdeckt jede Generation neu Büchners sprichwörtlich
gewordene ‘Gegenwärtigkeit’. Immer von neuem ist er im Wechsel
der einander überholenden Innovationsbewegungen gerade für
die Avanciertesten schlechthin »der modernste Dichter« (Elias Canetti).
Bis in die Gegenwart findet man immer wieder: »He is one of us,
a modern, even a post-modern writer.« (So in einer Kritik über
Werner Herzog s Reading of Büchner’s »Woyzeck«.) Seine
exponierte Stellung unter den Klassikern der Moderne ist unumstritten.
Zum Bilde eines konsensstiftenden Klassikers will allerdings der
Mangel an abgeklärter historischer Distanz nicht recht passen,
den engagierte Bekenntnisse höchst unterschiedlicher Art zu
Büchner offenbaren. Anders als von Klassikern gewohnt, gehen
von ihm ästhetische, weltanschauliche, moralische und nicht
zuletzt gesellschaftspolitische Herausforderungen aus und reizen
die nach ihm Lebenden dazu, ihn als Zeugen direkt in ihre eigenen
Auseinandersetzungen hineinzuziehen. Die Rezeptionsgeschichte ist
davon in den Farben der jeweiligen Parteiungen grell gezeichnet,
die Forschung tief verwickelt in die Konfrontationen, und infolgedessen
vielfach ideologisch instrumentalisiert.
Das Fatalste aber: Zwischen der regen Beanspruchung Büchners,
seiner produktiven Aufnahme durch zeitgenössische Autoren,
den Adaptionen seiner Werke in den Medien anderer Künste (allem
voran des Theaters und des modernen Musiktheaters, das von seinen
Vorlagen inspiriert ist), der überaus umfangreichen wissenschaftlichen
Sekundärliteratur, seiner Behandlung als Lehrstoff der Schulen
auf der einen und den unsicheren Textgrundlagen, deren all diese
Beanspruchungen sich bedienen, auf der anderen Seite besteht eine
Diskrepanz sondergleichen. Vergleicht man die vielstrapazierten
wenigen Texte in den verschiedenen Ausgaben, in denen sie verbreitet
sind, miteinander, so bietet sich ein höchst irritierendes
Bild. Die Ankündigung eines Büchner-Seminars (von Udo
Köster an der Universität Hamburg) bringt die Situation
prägnant zum Ausdruck: »Sein schmales Œuvre, zu Lebzeiten nur
zu Teilen und verstümmelt und nach der Wiederentdeckung höchst
unzulänglich ediert, ist ‘unvollendet’; es ist auch kommentierungsbedürftig
wie kein anderes, und schon die Suche nach brauchbaren Lesetexten
führt ins Dickicht schwer überschaubarer philologischer
Fehden. Diese Fehden werden zum Guerillakrieg aller gegen alle,
wo es um den politischen Büchner geht: den ‘wahren’, den ‘faschistisch
verfälschten’, den ‘Nihilisten’ oder den ‘Frühkommunisten’.«
Im Laufe der Geschichte ihrer Edition haben die Texte absonderliche
Verwandlungen durchgemacht, und auch in heute noch nebeneinander
im Umlauf befindlichen Ausgaben sind sie in Versionen zu lesen,
die sich erheblich voneinander unterscheiden, ohne daß alternative
Fassungen des Dichters vorlägen, auf die dies zurückgeführt
werden könnte. Alle Ausgaben sind vielmehr auf die gleichen
wenigen Überlieferungsträger angewiesen. Diese sind allerdings
überwiegend so unzureichend, daß in vielen Punkten nicht
leicht zu beurteilen ist, welchen Grad der Sicherheit sie verbürgen
und welche Verbindlichkeit für die Textkonstitution ihnen beizumessen
ist. Die bezeugten Texte sind großenteils nur unzulänglich
autorisiert, unvollständig und durch Eingriffe von fremder
Hand deformiert. Am Ausmaß der von Ausgabe zu Ausgabe begegnenden
Abweichungen des Wortlauts und Umfangs der Texte, der Anzahl und
Reihenfolge der Szenen, namentlich von Woyzeck, dem für
die Gattungsentwicklung des modernen Dramas einflußreichsten
Stück, kann man ungefähr ermessen, in ein wie weites Feld
zu verantwortender Entscheidungen die Herausgeber sich jeweils versetzt
sehen, wenn sie sich der Aufgabe stellen, in les- und spielbare
Texte umzusetzen, was nachgelassene Handschriften und postume Drucke
notdürftig vermitteln.
Nach der späten Erkenntnis, daß für authentisch
gehaltene Textfassungen, von denen Büchners Wirkung ausgegangen
ist, sich schließlich als mehr oder weniger frei arrangierende
und stilisierende Herausgeber-Kompilationen herausgestellt haben,
schlägt das einstige Vertrauen, das man noch in die Editionen
von Karl Emil Franzos seit Anfang der 1880er Jahre und die von Fritz
Bergemann seit den 1920er Jahren setzte, um in überbordende
Skepsis. Die in den letzten Jahrzehnten zu neuer Gewissenhaftigkeit
erwachte Büchner-Philologie bemüht sich, den prekären
Befund der Textüberlieferung offenzulegen. Was ihre teilweise
erheblich divergierenden Resultate dabei dem Selbstverständnis
der Textphilologen eintrugen, ist dem Recht der Leserwelt auf so
weit wie möglich gesicherte und zugleich lesbare Texte bislang
jedoch nur bedingt zugute gekommen. Das Dilemma erscheint sogar
noch vergrößert, einerseits durch skrupulöse Enthaltsamkeit
in der editorischen Umsetzung problematischer Befunde und gleichzeitig
durch ehrgeiziges Bemühen um Selbstbeweise des sensibilisierten
Methodenbewußtseins. Rigoristische Konsequenzen aus schwierigen
Textlagen stellen nicht nur bestimmte Editionen, sondern die Werke
selbst zur Disposition, wo andernfalls der objektivistische, an
quasi-mathematischer Exaktheit orientierte Theorie-Anspruch zurückgenommen
werden müßte. »Kostproben aus dem editorischen Gruselkabinett«
der Lesarten gibt Walter Hinderer (1993).
Solchem wissenschaftlichen Triumph des Editors über das Werk
des Dichters war zuerst Woyzeck, die folgenreichste Entdeckung
aus dem Nachlaß, bereits unterworfen. Nicht nur als Fragment,
sogar als bloße Idee eines Werkes hat man dem Drama schon
die Authentizität abzusprechen versucht. Ähnliches droht
der Erzählung Lenz, von der die Destruktionsarbeit einer
Textkritik nicht abläßt, die blind ist für die Originalität
der ästhetischen Struktur und daher intendierte Normabweichung
unbesehen mit den Momenten des Unvollendeten hinzurechnet, bis der
Erzähltext in rohes Arbeitsmaterial aufgelöst ist.
Insbesondere aus dem ungewöhnlich weitgehenden Quellenbezug
der Texte Büchners werden die fatalsten Folgerungen abgeleitet.
Die Entdeckung der Quellenabhängigkeiten verleitet eine verbreitete
Art von Textkritik dazu, sich in der Rekonstruktion der Quellen
zu verlieren und darüber die eigentliche Aufgabe, die Rekonstruktion
des vom Autor Intendierten, aus den Augen zu verlieren. Wie am Beispiel
von Lenz eine Verlagerung des Untersuchungsinteresses vom
Werk weg auf die Problematik der Quellen an sich zu beobachten ist
- und damit von Büchner auf Oberlin -, so arbeitet eine neue
Edition von Danton’s Tod, fixiert auf die teils nachweislichen,
teils vermuteten geschichtlichen Quellen, sich verzweifelt erfolglos
daran ab, das Drama »historisch-kritisch« möglichst restlos
in den partikularen Stoff der Geschichte zurück zu zerlegen,
auf den es sich bezieht, in dem es aber nun einmal nicht aufgeht.
Der universelle konstitutive Erfahrungsstoff menschlichen Erlebens
wird in dieser Perspektive ganz ausgeblendet. Das indizierte Interesse
am Werk reduziert sich auf einen verschwindend kleinen Ansprechkreis
von Spezialisten, die einen bestimmten Faktenzusammenhang von 1793/1835
im Auge haben. Unerklärlicher denn je muß demnach die
‘Gegenwärtigkeit’ Büchners erscheinen. Die nachhaltige
Wirkungsgeschichte der genannten Werke müßte auf einer
wundersamen Geschichte von Mißverständnissen beruhen,
oder auf einer Reihe genialer Fälschungsleistungen früherer
Herausgeber, wenn die Textüberlieferung nicht mehr enthielte,
als hyperkritische Problematisierungen der Befunde durch Krause,
Gersch, Dedner und T. M. Mayer uns glauben machen möchten.
Was bietet die Ausgabe ?
Die vorliegende Ausgabe wurde vor dem Hintergrund der hier skizzierten
Problemlage erarbeitet. Die Defizite der Überlieferung kann
auch sie nicht wettmachen, wohl aber kann sie erweiterte und gründlich
revidierte Grundlagen für die Beschäftigung mit Büchners
literarischem Werk, seinen politischen, naturwissenschaftlichen
und philosophischen Schriften sowie seiner Korrespondenz in soweit
wie möglich authentischer und zugleich allgemein lesbarer Gestalt
bereitstellen. Der gesamte Werk- und Brief-Komplex wird in mehreren
Schichten systematisch zusammenhängend kommentiert und mit
Dokumenten zum Hintergrund erhellt. Eine Vielzahl von Ergebnissen,
Fragestellungen und Anregungen der Forschung konnte dazu kritisch
aufgenommen und, ergänzt durch Ergebnisse eigener Untersuchungen
des Herausgebers, genutzt werden.
Über die Dichtungen hinaus, die um die hier erstmals kommentierten
Übersetzungen der beiden Dramen von Hugo ergänzt sind,
in Band 1, enthält die Ausgabe in Band 2 sämtliche überlieferten
Schriften und alle Briefe von und an Büchner soweit sie erhalten
sind. Die Schriften aus der Schulzeit (darunter erstmals ediert
die Mundartübertragung einer Ballade Schillers ins Hessische)
vermitteln die Bindung an den Bildungshintergrund und persönliche
Dispositionen. Wie den Briefen und dem Hessischen Landboten,
der einzig erhaltenen Schrift Büchners zur Politik, kommt unter
den Schriften vor allem der Untersuchung zum Nervensystem der Fische,
dem Mémoire sur le système nerveux du barbeau
(1836), und den Studien zu Descartes (Cartesius) und zu Spinoza
besondere Bedeutung zu. Erst im Horizont der naturwissenschaftlichen
Wahrnehmung Büchners und seines philosophischen Denkansatzes
erschließen sich Eigenheit und Beziehungsreichtum der Dichtungen.
Mit einbezogene Dokumente und Materialien zu den Texten ergänzen
und konkretisieren diesen Zusammenhang. Eine Neubewertung der Schriften
zur Philosophie ergibt sich aus der Aufklärung der Quellenverhältnisse.
Die Entwürfe Cartesius und Spinoza zu einen Projekt
philosophischer Vorlesungen sind keineswegs Exzerptzusammenstellungen
aus zweiter oder dritter Hand, sondern aus den Quellen erarbeitete
originäre kritische Rekonstruktionen der Begründungstexte
des neuzeitlichen wissenschaftlichen Denkens. Die nicht sehr zahlreich
und zum Teil nur in willkürlichen Ausschnitten überlieferten
Briefe Büchners gehören zu den am häufigsten zitierten
Brieftexten eines Autors deutscher Sprache. Bei ihrer starken Beanspruchung
von vielen Seiten bestand auch für ihre Kommentierung ein chronischer
Nachholbedarf. Die neue Ausgabe erleichtert nun den Zugang zum biographischen
und historischen Zusammenhang und Anspielungsreichtum der Korrespondenz.
Die Texte sind aus den kritisch überprüften
originalen Überlieferungsträgern, unter Berücksichtigung
aller Textzeugen und mit Ausweis aller Varianten, soweit sie inhaltlichen
oder formalen Aufschluß über die Textentwicklung geben,
neu erarbeitet worden. Aus den vorangegangenen editorischen Unternehmungen
wurden die notwendigen Lehren gezogen. Die Spanne der Herausgeberentscheidungen,
zu denen der Zustand der Überlieferung zwingt, wird offengelegt.
Die getroffenen Entscheidungen werden gegen alternative Lösungen
abgewogen und begründet, ungeklärte Probleme und strittige
Bewertungen von Textzeugen argumentativ dargelegt.
Über die den Texten zugrunde liegenden Druckvorlagen, über
grundsätzliche textkritische Fragen, insbesondere da, wo sich
gegenüber bislang geltenden Auffassungen neue Beurteilungen
mit Konsequenzen für die Textkonstitution ergeben, und über
Besonderheiten der Textgestaltung wird je am Anfang der Kommentare
zu den Werken detailliert Auskunft gegeben. Offenkundige Schreib-
oder Druckfehler in den Druckvorlagen sind, wenn jeder Zweifel ausgeschlossen
ist, stillschweigend berichtigt worden, in Fällen nicht auszuschließenden
Zweifels mit Anmerkung im Stellenkommentar. Andere Abweichungen
von den Druckvorlagen werden im Text durch Einschluß in spitzwinklige
Klammern markiert und im Stellenkommentar begründet. Entstehungs-
und ausgewählte Überlieferungsvarianten werden, wenn nicht
im Anschluß an die Texte (Leonce und Lena, Woyzeck),
im Kommentar angeführt. Letztere sind im Falle von Danton’s
Tod aufschlußreiche Belege der texteingreifenden Wirkungsgeschichte.
Nach den mit Rücksicht auf persönliche Eigenheiten in
der Schreibweise Büchners modifizierten Richtlinien des Verlages
für die Bibliothek deutscher Klassiker wurde die orthographische
Wiedergabe der Texte dem heutigen Gebrauch angeglichen - nicht jedoch
die der Entwürfe; diese (im Falle von Woyzeck umfassen
sie den gesamten Textbestand) bleiben, wie auch die wiedergegebenen
Quellen und andere Dokumente, in der originalen Schreibweise unverändert
erhalten. In allen Fällen, wo der Lautstand oder spezifische
Ausdruckswerte berührt werden könnten, wurde auf orthographische
Modernisierung verzichtet. Ebenso wurden die Schreibweise der Eigennamen,
die Groß- und Kleinschreibung sowie die Interpunktion der
Textvorlage bewahrt.
Die Kommentare zu den Werken bestehen
aus Übersichtskommentaren und zeilenbezogenen Stellenkommentaren.
Die Übersichtskommentare legen Rechenschaft über editorische
Entscheidungen ab, informieren über Entstehung, Überlieferung,
historischen und literarhistorischen Hintergrund, über Quellen,
Wirkungsbelege und Deutungsaspekte zu Struktur und Gehalt der Werke.
Die Stellenkommentare geben zeilenbezogen Auskunft über Berichtigungen
des Herausgebers im edierten Text, punktuelle Textvarianzen und
relevante Differenzen gegenüber anderen Ausgaben sowie über
einzelne Text- und Sachzusammenhänge. Einen besonderen Schwerpunkt
der Kommentierung bildet der Nachweis der für die eigentümliche
Strukturierung der Texte Büchners kennzeichnenden ungemein
vielfältigen Quellenbezüge und mehr oder weniger wörtlich
zitierenden Anspielungen auf literarische Texte anderer Autoren.
Das Literaturverzeichnis weist Wege
zu eingehenderer Beschäftigung mit Büchner. Es enthält
Quellenangaben und gibt die umfangreiche Forschungsliteratur an,
die dem Herausgeber für seine Arbeit zur Verfügung stand.
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