Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 12. Dezember 2000, Nr.
289
Stirb
viermal, jetzt erst recht
Die
Kompanie "Marburg" der Büchner-Forschung zog ins Feld
und kehrt mit vollen Schulranzen zurück / Von Thomas Wirtz
Am 21. Februar 1835
verläßt ein umfängliches Paket Darmstadt in Richtung Frankfurt.
Absender ist der Medizinstudent Georg Büchner, wohnhaft zur Zeit
Grafenstraße bei den Eltern. Adressiert ist es an den Verleger Johann
David Sauerländer, dem mit abgeklärten Worten wie aus einem dicken
Geschäftsfauteuil ein "dramatischer Versuch" zu einem
"Stoff der neueren Geschichte" angeboten wird. Diesen
gesetzten Zeilen ist das Manuskript und ein Brief an Karl Friedrich
Gutzkow beigeschlossen, der in Sauerländers Verlag das Literaturblatt
"Phönix" redigiert und für seine Heine-Förderung bekannt
war. Diese Wahlverwandtschaft genügt, um Büchners Briefton ins poetische
Bekenntnis zu überdrehen. Jung, genialisch und mit scheuer Unverschämtheit
sägt hier jemand an Gutzkows Schädelnerven, als wolle er Material
für seine Zürcher Vorlesung im nächsten Jahr gewinnen. Der Brief
ist eine Berg- und -Tal-Fahrt der Metaphern, Anmaßung und Demutsgeste
zugleich. Das Stück, dessen Titel - "Danton's Tod" - vor
lauter Zungenflattern gar nicht erst genannt wird, sei "in
höchstens fünf Wochen" entstanden, schreibt Büchner. Nun sei
es da, nun müsse es gedruckt werden, für langes Bitten fehle ihm
die Zeit. Diese Hast war durch die Wirklichkeit gedeckt. Wenige
Tage später muß sich Büchner wegen einer gescheiterten Gefangenenbefreiung
nach Straßburg absetzen und beschäftigt so neben dem Verleger auch
die kurhessische Polizei. Das Leben ist kurz, die Haft wäre lang.
Nicht jeder mag umständlich an Dramenstellen feilen, der Gitterstäbe
vor sich sieht.
Anders als der Agitator beherrscht der Philologe
die Kunst der Zeitdehnung. Irgendwann kurz nach Einrichten der Marburger
Georg-Büchner-Forschungsstelle muß sich eine Fermate aufgetan haben.
Sie verschlang - von der zahlenden Öffentlichkeit unbemerkt - eine
ganze Reihe Mitarbeiter und hat diese erst nach Jahrzehnten wieder
ausgespuckt: Die Wissenschaftslandschaft war eine andere geworden.
Fünf Wochen brauchte Büchner für die letzte Niederschrift seines
Erstlings, mindestes dreizehn von der Deutschen Forschungsgemeinschaft
finanzierte Jahre dagegen seine Edition. Doch es waren keine verlorenen,
wie die vier kiloschweren Revolutionspsalter jetzt beweisen: Aus
den 152 Seiten der ersten Buchausgabe sind fast 1600 geworden wie
zum Beweis, daß man in der Versenkung verschwinden und in ihr arbeiten
kann. Im Jahr 1835 konnte man für den Buchpreis sechs Kilo Brot
kaufen, heute gäbe es für die 480 Mark die gleiche Menge Kalbsbries
dazu. Deshalb ist Danton widerlegt, der in dem Glauben starb, das
editorische "Nichts" sei der "zu gebärende Weltgott".
Nein, die Büchner-Forschung ist ein Schlachtfeld, wo "jedes
Komma ein Säbelhieb und jeder Punkt ein abgeschlagner Kopf ist".
Vier Bände für ein Halleluja: Blut, Schweiß und Tränen haben die
Leinenbände rot gefärbt.
Es ist das Vorrecht
solch dickhäutiger Monumentalausgaben, daß sie - neben der Überraschung,
zuletzt doch noch erschienen zu sein - ansonsten von Aufregung frei
sein dürfen. Vor allem die Marburger Büchner-Arbeitsstelle hat mit
ihrer Publikationstätigkeit seit den siebziger Jahren dafür gesorgt,
die Erwartung des Unerwarteten zu dämpfen. Schon 1980 erschien der
"Entwurf einer Studienausgabe" zu "Danton's Tod";
im Georg-Büchner-Jahrbuch wurde jeder Fund mit schöner Regelmäßigkeit
vorab ausgebreitet, so daß die Ausgabe jetzt unter längst schon
Eingeweihten zirkuliert. Nun liegt das Verstreute mit einem Schlag
auf dem Tisch, manchem begegnet man wie einem alten Bekannten, den
man zwischenzeitlich vergessen hatte. Über so viel Wiedersehen kommt
auch ein Gefühl von "Guillotinenromantik" auf, eine nostalgische
Erinnerung an die bewegten siebziger Jahre, als diese Ausgabe mit
politischer Verve ihre Gründung ausrief. Diese lange Zeit hat die
Ausgabe selbst zum Geschichtswerk gemacht. Sie ist ein nachgeborenes
Zeugnis für die aufbegehrende Germanistik, Erledigung der Buchstabenabweichler
und Inthronisation der endgültigen Definitionsmacht. In Marburg
als Ort der Krawallshüter lauscht man keiner Mitleidsfrage.
Historisch-kritische
Ausgaben sind Werke der Wissenschaft. Jeder Neuling, der sie zum
ersten Mal aufschlägt und unmittelbare Belehrung erhofft, muß erst
einmal das Lesen lernen. Anders als im Konversationslexikon bleibt
auch dem Geübten eine Ordnung lange Zeit undurchschaubar; wie in
einer großen Bürokratie wird mit einer Frage von einem Band zum
anderen geschickt. Im Zeitalter der Computeredition hat sich diese
Neue Unübersichtlichkeit eher noch verstärkt: Zu verlockend sind
die Möglichkeiten vielfacher Schriftauszeichnung, einer veränderten
Buchstabengröße, der Unterstreichung, eingefügter Sonderzeichen.
Die Marburger Ausgabe möchte hinter diesen Standard nicht zurückfallen
und belehrt den Anfänger, daß Danton keineswegs einen einfachen
Tod gestorben ist. Vier Fassungen des vermeintlich einen Dramas
kommen in den Bänden zum Abdruck, aus dem Sterben wird ein Massaker.
Was also wird geboten?
Der erste Band eröffnet mit einem Faksimile der Handschrift, der
mittelbaren Vorlage für den Zeitschriften- und Buchdruck im gleichen
Jahr 1835. Diese 166 handschriftlichen Seiten schickte Büchner damals
briefbeschwert an Gutzkow, heute liegen sie im Weimarer Goethe-
und Schiller-Archiv. Ihnen gegenüber steht die "differenzierte
Umschrift", die den Handschriftenbefund als erste kommentiert,
also in herkömmliche Buchschrift übersetzt. Wenn Büchner zum kleinen
Buchstaben ansetzte, aber in der Schreibbewegung sich eines größeren
besann, bleibt solcher Sinneswandel hier nicht unbemerkt. Korrekturpfeile,
Klammersysteme, halbfette und magere Auszeichnungen reproduzieren
nicht das Schriftbild,, sondern passen es bereits in eine Chronologie
ein. Was hier noch nahe an der Schrift bleibt, wird im zweiten Abdruck,
der "genetischen Darstellung", in einen definitiven Zeitablauf
gebracht: Diese Streichung, so zeigt ein ausgeklügeltes graphisches
System, ging jenem Neuanfang vorher, diese Korrektur ersetzt jenen
verworfenen Beginn. Die eine Zeit der Handschrift wird in einen
Prozeß rückübersetzt, zwei abgedruckte Fassungen bemühen sich um
die eine Textentstehung: Am Ende sind 511 Seiten und der erste Editionsband
voll.
Seit der Frankfurter
Hölderlin-Ausgabe gehören Faksimiles zum Auftritt "widerständiger
Klassiker": Büchner, Kleist, Hölderlin, Kafka haben sie, Goethe
und Schiller brauchen sie nicht. Diese Voreingenommenheit der Editionen
und ihre Liebe zum fotografischen Detail hat einen doppelten Grund:
Zum einen, so behauptet der Editor, lasse er sich mit dem Faksimile
nachprüfbar ins Handwerk schauen. "Mehr Demokratie wagen"
ist sein Motto, die Produktionsmittel werden gewissermaßen vergesellschaftet
und stehen nun jedem Lesefähigen zur freien Verfügung. Vertrauen
ist gut, eine Kontrolle der Handschrift ist besser: Das Faksimile
ist praktizierte Gewaltenteilung, ein Nachvollzugsorgan.
Bei einer Hölderlin-Handschrift,
die Autor und Nachleser gleichermaßen zum Wahnsinn bringen kann,
leuchtet ein solcher Offenbarungseid sofort ein. Tatsächlich muß
sich der Leser von Hölderlins Irrungen wie Wirrungen selbst ein
Bild machen, um dieses Chaos zu verstehen. Büchners Danton-Handschrift
dagegen, die dem Verlag als Druckvorlage zugesandt war, ist von
vorbildlicher Schreiblinientreue, also gerade kein Tummelplatz für
Detektive. Warum dann das Faksimile? Im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit ist es ein Zufluchtsort von Aura. Der Aufklärungswillen
dieser Editionen geht mit einer Wiederherstellung des Geheimnisses
einher - und nur der Buchstabe ist sein Träger. Das Faksimile haucht
"Danton's Tod" neues Leben ein: Wer Augen hat, der sehe.
Im zweiten Band der
Ausgabe findet man den sogenannten "Emendierten Text",
also eine lesbare, letztgültige Fassung. Unter dem Fußnotenstrich
haben die Herausgeber Burkhard Dedner und Thomas Michael Mayer alle
Abweichungen der späteren Drucke bis zur Werkausgabe des Bruders
Ludwig Büchner aus dem Jahr 1850 verzeichnet. Dieser Apparat ist
übersichtlich angeordnet. Ein verlorengegangenes Semikolon wird
nicht vergessen, doch nur geänderte oder gar weggelassene Worte
erhalten einen größeren, unmittelbar auffallenden Schriftgrad. In
seinem Nachruf hat der Redakteur Gutzkow 1837 selbst bedauert, mit
der "Scheere der Vorcensur" das Drama bearbeitet und es
zur "Ruine einer Verwüstung" entstellt zu haben. Vor allem
die wild wuchernden "Quecksilberblumen" hat er bis zur
Unkenntlichkeit beschnitten. Büchners Zotenlust, seine medizinisch
kundige Verwendung von Geschlechtskrankheiten als Bildspender, verletzte
den Anstand aller Biedermeier. So mußte die Muse Gonorrhöe zum Schweigen
gebracht werden, was durch massive Texteingriffe gelang. Den alten,
unbeschnittenen Zustand stellt der Apparat wieder her, und so glänzen
die revolutionären Reden wieder in syphilitischer Frische.
Dann folgt der auffälligste Teil dieser "Danton"-Ausgabe:
der "quellenbezogene Text" als vierter und letzter Abdruck.
Durch halbfette Schrift und bis zu drei Unterstreichungen werden
hier alle Passagen hervorgehoben, die Büchner aus historischen Quellen
- Zeitschriften, Revolutionsdarstellungen, Biographien - übernommen
hat. "Ich betrachte mein Drama wie ein geschichtliches Gemälde,
das seinem Original gleichen muß", heißt es in einem Brief
vom 5. Mai 1835. Vor allem Thomas Michael Mayer betrachtet diese
Aussage als Findegebot, der jeden Satz unter Zitatverdacht stellt.
Diese Anhänglichkeit Büchners an die verschriftlichte Geschichte
entspringt für Mayer nicht dem kühlen Kopf des Chronisten, sondern
dem heißen Herzen des Politikers. Der Editionsbericht widmet deshalb
viele Seiten der Frage, welcher neopostneorevolutionären Splittergruppe
Büchner damals anhing. Dafür rekonstruiert Mayer eine hessische
Landschaft, in der kein Hölzchen und Stöckchen vergessen wird. Hinter
allen Büschen lauem Neobabouvisten, Frühkommunisten, Spätjakobiner;
verlaufene K-Gruppen tummeln sich im Untergrund und erschöpfen ihre
Kraft durch ideologische Minimalabweichung. Am trefflichsten politisiert
der Tapfere allein: Der Leser gewinnt den Eindruck, als seien Hessens
politische Dramen alles Einpersonenstücke. Diese Annahme des Editors,
"Danton's Tod" sei unmittelbar dramatisierte Geschichte,
bringt die 467 Seiten des dritten Bandes hervor. Mayer druckt hier
alle bezeugten oder auch nur möglichen Quellen ab - nicht nur die
von Büchner verwendete Stelle, sondern ihr weitgefaßtes Umfeld.
Das mag verdienstlich sein, bleibt aber im Nutzen für das literarische
Verstehen zweifelhaft. Vor allem stürzt es die Ausgabe in ein Dilemma.
Schon 1969 (!) vermutete nämlich Mayer, daß Büchner eine Quelle
verwendet haben müsse, die man bis dahin noch nicht aufgefunden
hatte. Weder an der Vermutung noch an der Lücke hat sich im Jahr
2000 etwas geändert. Deshalb sei, so schreiben die Editioren mit
bedauerndem Achselzucken, auch diese Ausgabe leider nur ein "vorläufiges
Arbeitsinstrument". Unklar ist, ob dieser Satz die Lizenz zum
Einstampfen erteilt.
Historisch-kritische
Ausgaben laufen stets dem Ideal der Vollständigkeit atemlos hinterher:
Immer findet sich ein Zitat nach Drucklegung. Die besondere Mißlichkeit
der Marburger Ausgabe liegt darin, daß sie ihre Verspätung und die
von der DFG geheimgehaltenen Kosten mit dieser Vollständigkeit verknüpft
hat. Auch der vierte Band, der Büchners Entlehnungen aus allen nichthistorischen
Quellen nachgeht, bleibt verbesserungsfähig - und sei es nur durch
ein Personenregister. Denn jetzt muß sich jeder Shakespeare-Tieck-Jean-Paul-Forscher
durch 251 Seiten kämpfen, um seinen Autor vielleicht bei Büchner
wiederzufinden. Das stimmt ein wenig unfroh. So bleibt als Trost,
daß mit "Danton's Tod" zumindest ein Anfang gemacht ist.
Und dem durch Warten zermürbten Leser geht es wie dem Benutzer der
Deutschen Bahn: Überhaupt ankommen ist das Ziel.
__________________________________________________________________________
Georg
Büchner: "Sämtliche Werke und Schriften. Marburger Ausgabe".
Herausgegeben von Burghard Dedner und Thomas Michael Mayer. Band
3: "Danton's Tod". Band 3.1: Text, 511 S.; Band
3.2: Text, Editionsbericht, 378 S.; Band 3.3: Historische Quellen,
455 S.; Band 3.4: Erläuterungen, 251 S. 4 Bde. in Kassette. Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, Darmstadt 2000. Geb., 480,- DM.
|